yogahilft.de
Shares

Abschiedsbrief an meine Essstörung

Shares
Abschiedsbrief an meine Essstörung

Liebe Freundin,

heute ist der Tag gekommen, indem ich dir nach sovielen Jahren ewiger Treue schreiben möchte, warum ich dich so liebe und abhängig geworden bin.

Kennengelernt hatte ich dich als leise Stimme, die mir mit 15 Jahren in mein Ohr flüsterte, ich werde dir helfen abzunehmen. Ich wollte nie abnehmen, ganz im Gegenteil, ich war ein Mädchen, was Essen über alles liebte und auch immer hungrig war, aber nie dick. ​

More...

​Zumindest hatte ich mich nie als dick o. pummelig empfunden. Ich mochte es sogar, wenn ich morgens in den Spiegel sah und meinen Knackarsch in der fast zu engen Jeans mit Staunen betrachtete. Denn ich wusste, dass ja Jungs auf sowas stehen. Ich war schon immer ein Mensch gewesen, der alles dafür tat im Mittelpunkt zu stehen um Aufmerksamkeit zu bekommen. Aber nur im positiven Sinne. Doch leider konnte sich mein Vater mit meinem Äusseren nicht abfinden, warum auch immer, denn darauf weiss ich bis heute keine Antwort darauf. Ich habe mich bis heute nicht getraut ihn danach zu fragen. Ich kann mich nur erinnern, dass er mich immer als zu Dick empfand und mir mehrmals tägl. sagte, ich solle nicht so fressen wie ein Schwein. Ich fresse ihn noch arm.

Klar ich aß sehr gern, aber bestimmt nicht wie ein Schwein und auch nicht Unmengen in mich hinein. Es war einfach die Pupertät die mich gerne essen liess. Mein Vorbild war immer meine beste Freundin Karin, die 10 kg weniger wog wie ich, doch das störte mich eigentlich nie!

Doch irgendwann, konnte ich es einfach nicht mehr hören, bzw. aushalten und habe dann einfach aufgehört zu essen. 

Ich ass nur noch einen halben Apfel am Tag und hungerte mich von 60 auf 50 kg runter. Dann ass ich wieder mehr, weil ich nicht immer hungern konnte und nahm dann wieder zu. Also ein ständiges auf und ab.

An genaue Einzelheiten kann ich mich nicht mehr erinnern, doch ich weiss noch ganz genau den Tag, als ich zum 1. Mal in einer Frauenzeitschrift von der Esstörung Bulimie las. Ich war 16 und wollte es ausprobieren, denn ich las darin, dass man essen kann soviel und was man möchte ohne dick zuwerden, indem man danach das Essen kotzt.

Das hörte sich zu Beginn sehr euphorisch und vielversprechend an, doch dies in die Tat umzusetzen war gar nicht so einfach. Ich versuchte es mit allen Mitteln, das Gegessene zu Erbrechen doch es ging nicht. Ich quälte mich so sehr, dass mir nach dem 1. Versuch, als ich mir einen Holzkochlöffelstiel in den Hals steckte, die Speiseröhre so brannte, dass ich danach nicht mal mehr Wasser schlucken konnte. Deshalb hatte ich sofort wieder aufgehört und begann wieder zu hungern, noch schlimmer als vorher. Zu diesem Zeitpunkt also mit 16 war ich in der 10. Klasse Realschule und wollte unbedingt an die FOS mit dem Traum Kunst zu studieren, weil für Medizin hatte es leider nie gereicht.

Nicht weil ich dumm war, sondern, weil mein Vater schwer krank war, bzw. auch noch ist. Doch damals wusste ich nicht was mit ihm los war. Mir war zwar klar, dass er unmengen an Alkohol tägl. trank, mich schlug, mich beschimpfte, ins Zimmer einsperrte, mir Essen aus dem Nachtkästchen klaute, bzw. den Kühlschrank leer frass, aus Bosheit um uns alle zu ärgern. Er machte mir so oft Angst, ja ich hatte sogar Todesangst vor ihm, dass ich mich zum Lernen in den Keller versteckte und dort auch gegessen hatte.

Manchmal hatte ich auch bei Freunden ect. gelernt, doch ich konnte nie so richtig abschalten, entweder plagte mich mein Hunger oder die grosse Angst nach Hause gehen zu müssen. Und die Magersucht war Ausdruck dessen.

Es war ein Hilferuf auf allen Ebenen, der mir aber damals nicht bewusst war, heute klar, doch nun leider viel zu spät um alles rückgängig zu machen, denn aus Hungern und Kotzen, hatte sich nach all den vielen Jahren eine Sucht entwickelt die mich damals am Leben erhielt. Sie machte mich stark und gab mir die Kontrolle wenigstens beim Essen mir nichts vorschreiben lassen zu müssen.

Doch das hatte strikte Konsequenzen gehabt. Er schlug mich immer mehr, wenn er in seiner Manie feststeckte, kontrollierte mein Zimmer, las mein Tagebuch, wieder Schläge mit dem Gürtel und Kochlöffel oft so blau, dass ich am nächsten Tag nicht mehr sitzen konnte. In der Schule liess ich mir nie was anmerken, hatte nie geweint ect.. sondern schluckte all die Jahre alles brav hinunter und kotzte mich dann über dem Klo wieder aus.

Hätte ich das nicht gemacht, ich weiss nicht was passiert wäre. Oft hatte ich unter meiner Bettdecke ein scharfes Messer versteckt, mit dem ich meinen  Vater oft umbringen wollte, doch ( zum Glück, Gott bewahrte mich davor) habe ich es nie gewagt. Ich richtete alle Gewalt gegen mich und wollte mich einfach von der Welt bzw. von meinem Zu Hause, was in Wirklichkeit meine grösste Bedrohung überhaupt war, weghungern, verschwinden. Es war ein ständiges Auf und Ab, hungern, fressen, kotzen. Ich könnte noch 1000 Seiten weiterschreiben, deshalb hier das Wichtigste überhaupt:

  • Die Esstörung half mir, alle Misshandlungen auf allen Ebenen zu ertragen, sie machte mich nach aussen hin unverletzbar, also stark wie ein Stück Eisen.
  • Sie war Tag und Nacht für mich da, war immer an meiner Seite, nahm mir die grosse Angst vor Gefühlen, die dadurch immer weniger wurden.
  • ​Sie gab mir Mut und auch paradoxer Weise Selbstvertrauen,
  • als dann noch exzessiver Sport hinzukam, während meiner Ausbildung als Krankenschwester mit Nacht und Tagschichten, stand ich ständig unter Adrenalinausschüttungen. Schlaf kaum, doch sie liess mich weiterfunktionieren.
  • Ich funktionierte wie ein Roboter ohne Gefühle, denn die musste ich alle runterschlucken und konnte sie dann auskotzen. Hätte ich das nicht gemacht, wäre ich früher o. später wie ein Schnellkochtopf mit enormen Überdruck explodiert. Was dann passiert wäre, heute nur Spekulation.
  • Ich funktionierte all die Jahre weiter, als Lebensretterin für meinen Vater, als er sich umbringen wollte, als Vertraute für meine Mutter, als liebevolle Schwester für meinen Bruder, für meine Oma, als tolle Yogalehrerin, Animateurin, Fotomodell, Aktmodell, Liebhaberin, eigentlich für alles , nur nicht für den Wichtigsten Mensch in meinem Leben: Für Mich Selbst!

Deshalb die grosse Frage heute noch, wer bin ich wirklich?

Liebe Esstörung, deshalb danke ich dir so sehr dafür, denn ohne Dich wäre ich heute nicht diejenige die nun diese Zeilen über dich schreibt, warum es mir immer noch so wahnsinnig schwer fällt, dich nun endgültig für immer gehen zu lassen.

Ich werde nun mein nächstes Leben ohne Dich auf eine ganz neue Art und Weise erleben und erfahren dürfen, aber ich werde dich nie vergessen!

Vielen Dank, denn ohne Dich hätte ich es damals nicht geschafft und würde heute nicht mehr existieren.

Du hattest mich am Leben erhalten, doch nun musst du mich bitte gehen lassen, denn es warten andere auf dich, die dich dringender benötigen als ich. Du hast alles für mich getan und dafür bin ich dir bis heute dankbar, sonst hätte ich dir nicht diesen Abschiedsbrief geschrieben!

Alles Liebe, Elke

Leave a Comment:

1 comment
Add Your Reply